In den Jahren 2010 – 2016 tobte angesichts gesunkener Zinsen für Immobiliendarlehen ein langer Kampf zwischen Verbrauchern und Banken über den Widerruf von Darlehensverträgen wegen fehlerhafter Widerrufsbelehrungen. Dabei versuchten die Banken, möglichst lange eine Entscheidung des BGH zu vermeiden. Die Lobbyisten der Banken schafften es letztendlich, vor einer BGH Entscheidung den Gesetzgeber zu einer Gesetzesänderung zu bewegen, um massenhafte Verfahren zu verhindern.

Es sah daher so aus, als sei das Thema des Widerrufs eines Immobiliendarlehens Teil der Rechtsgeschichte. Doch weit gefehlt, der EuGH hat nun in das Spielfeld eingegriffen und eine neue Runde – zumindest für Immobiliendarlehen aus den Jahren 2010-2016 – eröffnet.

Wie kam es dazu ?

Das Landgericht Saarbrücken hat in einem Verfahren bezüglich des Widerrufs eines Immobiliendarlehens aus dem Jahre 2010 eine Richtervorlage über die Auslegung von EU Vorschriften an den EuGH gestellt. Im wesentlichen stellte das Landgericht dabei die Frage an den EuGH, ob die sogenannte Verweisung auf § 492 Abs 2 BGB und die dort genannten weiteren Verweise auf Artikel 247 EGBGB (sogenannter „Kaskadenverweis“) noch unter der in Artikel 10 der EU Richtlinie 2008/48/EG geforderten „klaren“ und „pregnanten“ Formulierung der Widerrufsbedingungen fallen.

Die Entscheidung des EuGH

Der EuGH hat nun überraschenderweise in der Entscheidung vom 26.3.2019 (AZ C-66/19) festgestellt, dass die Artikel 10 der EU Richtlinie der deutschen Handhabung des sogenannten „Kaskadenverweises“ entgegensteht.

Mehr enthält das Urteil nicht, insbesondere ist keine direkte Entscheidung für das Urteil im Prozess vor dem Landgericht Saarbrücken getroffen worden. Das ist nämlich, wie der EuGH auch in seinem Urteil ausführt, Sache der nationalen Gerichte. Der EuGH gibt nur die richtlinienkonforme Auslegung vor.

Aber was werden die deutschen Gerichte mit dieser Entscheidung machen ?

Eine Vielzahl von Kollegen werben nun damit, dass eine Vielzahl von Verträgen ohne weiteres widerrufen werden könnten.

Aber ist das wirklich so eindeutig ?

Konsequenzen für das nationale Recht ?

Die Entscheidung des EuGH ist in dem Verfahren des vorlegenden Gerichts bindend (sogenannte Wirkung „inter partes“), so dass zumindest das LG Saarbrücken bezüglich des Widerrufs faktisch zu keinem anderen Ergebnis als der Unwirksamkeit des Fristbeginns der Widerrufsfrist mit Unterschrift kommen kann. Doch schon das Berufungsgericht kann – zumindest aus anderen Gründen – zu einem abweichenden Ergebnis kommen.

Viel spannender ist jedoch die Frage, ob die Entscheidung des EuGH neben der Wirkung für die Parteien auch eine Wirkung für alle Gerichte in Deutschland (sog. „erga omnes“ Wirkung) haben kann. Aus der ZPO und den deutschen Normen ergibt sich eine solche Wirkung nicht, aus Sicht der Gemeinschaft ist jedoch eine solche Wirkung zwingend (siehe hierzu: Die Bindungswirkung von EuGH Vorlagebeschlüssen auf europainstitut.de).

Die Frage ist aber ob sich deutsche Gerichte daran halten werden, da bereits streitig ist, ob es überhaupt ein Verstoß gegen die Richtlinie gibt.

Die Argumentation der Bundesrepublik Deutschland in dem Verfahren vor dem EuGH war allerdings, dass die Überprüfung der deutschen Regelung zum Widerruf gar nicht vom EuGH hätte entschieden werden dürfen, da die Richtlinie nicht für grundpfandrechtlich gesicherte Darlehen Geltung hat. Tatsächlich ist in der Richtlinie dieser Ausschluß enthalten. Der EuGH hat die Frage des LG Saarbrücken trotzdem für zulässig gehalten, da einerseits die Bundesrepublik Deutschland sich dazu entschlossen hätte, die Regelungen für grundpfandrechtlich gesicherte Darlehen nach der Richtlinie zu gestalten, andererseits das LG Saarbrücken durch die Anfrage selber die Zuständigkeit begründet hätte, da der EuGH nicht die Befugnis hätte, eine solche Anfrage wegen Unzuständigkeit zurückzuweisen.

Interessanterweise hat der BGH in einer Entscheidung vom 19.3.2020 (BGH Beschluss vom 19.3.2020 AZ: XI ZR 44/18) bezüglich des Widerruf eines Immobiliendarlehens auf die Richtervorlage des LG Saarbrücken Stellung genommmen. Dabei hat man fast den Eindruck, als wenn die Entscheidung des EuGH schon in Karlsruhe bekannt war, und die Richter den Instanzgerichten eine „Segelanweisung“ geben wollten, wie mit der Entscheidung des EuGH umzugehen ist:

Soweit das Landgericht Saarbrücken (Beschluss vom 17. Januar 2019 – 1 O 164/18, juris) die Verknüpfung der Information über die Voraussetzungen für das Anlaufen der Widerrufsfrist mit dem Verweis auf eine gesetzliche Vorschrift für unklar hält, hätte der Senat aus mehreren Gründen weder Anlass, dem Gerichtshof der Europäischen Union ein Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung der Richtlinie 2008/48/EG zu unterbreiten, noch von der gefestigten Rechtsprechung abzugehen. Zum einen findet die Richtlinie 2008/48/EG nach ihrem Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und c auf den (Immobiliar-)Darlehensvertrag der Parteien keine Anwendung. Zum anderen ergibt der Wortlaut des Art. 10 Abs. 2 Buchst. p der Richtlinie 2008/48/EG offenkundig und ohne dass für vernünftige Zweifel Raum bliebe, dass in der Widerrufsinformation bei der Umschreibung der Bedingungen für das Anlaufen der Widerrufsfrist nicht sämtliche Informationen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b der Richtlinie 2008/48/EG aufgelistet sein müssen (OLG Stuttgart, Beschluss vom 4. Februar 2019 – 6 U 88/18, juris Rn. 23). Dem entspricht, dass die Studie der Generaldirektion Interne Politikbereiche, Fachabteilung A: Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik (Implementation of the Consumer Credit Directive, PE 475.083, 2012, S. 33 f. und S. 36 f.) die deutschen Regelungen zur Umsetzung der Richtlinie 2008/48/EG und den Verweis auf eine gesetzliche Vorschrift zwecks Umschreibung der Voraussetzungen für das Anlaufen der Widerrufsfrist nicht als der Richtlinie widersprechend beanstandet hat (OLG Stuttgart, Beschluss vom 4. Februar 2019, aaO, Rn. 28). Schließlich ist das deutsche Gesetz und der Wille des deutschen Gesetzgebers derart eindeutig, dass eine entgegenstehende richtlinienkonforme Auslegung ausscheidet (Senatsurteil vom 3. Juli 2018 – XI ZR 702/16, WM 2018, 1601 Rn. 13; OLG Stuttgart, Beschluss vom 4. Februar 2019, aaO, Rn. 12 ff., 19).
(BGH, Beschluss vom 19. März 2019 – XI ZR 44/18 –, Rn. 17)

Der BGH hat ebenfalls die fehlende Zuständigkeit des EuGH angenommen, darüber hinaus ist der BGH der Ansicht, dass auf Grund des eindeutigen Willens des bundesdeutschen Gesetzgebers eine richtlinienkonforme Auslegung aussscheidet.

Darüber hinaus hat sich der BGH auch in dem weiter zitierten Urteil zur „richtlinienkonformen Auslegung“ eingelassen:

Die Entscheidung darüber, ob im Rahmen des nationalen Rechts ein Spielraum für eine richtlinienkonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung besteht, obliegt den nationalen Gerichten (BVerfG, WM 2012, 1179, 1181; NVwZ-RR 2018, 169 Rn. 37). Eine richtlinienkonforme Auslegung darf nicht dazu führen, dass das Regelungsziel des Gesetzgebers in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht wird, oder dazu, dass einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Norm ein entgegengesetzter Sinn gegeben oder der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt wird. Richterliche Rechtsfortbildung berechtigt den Richter nicht dazu, seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen (BVerfG, WM 2012, 1179, 1181). Demgemäß kommt eine richtlinienkonforme Auslegung nur in Frage, wenn eine Norm tatsächlich unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten im Rahmen dessen zulässt, was der gesetzgeberischen Zweck- und Zielsetzung entspricht. Der Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung darf nicht zu einer Auslegung des nationalen Rechts contra legem führen (Senatsurteil vom 22. Mai 2012 – XI ZR 290/11, BGHZ 193, 238 Rn. 50; BVerfG, aaO). Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH Slg. 2006, I-6057 Rn. 110; NJW 2012, 509 Rn. 25). Die Pflicht zur Verwirklichung des Richtlinienziels im Auslegungswege findet ihre Grenzen an dem nach der innerstaatlichen Rechtstradition methodisch Erlaubten (BGH, Urteile vom 7. Mai 2014 – IV ZR 76/11, BGHZ 201, 101 Rn. 20 und vom 28. Juni 2017 – IV ZR 440/14, WM 2017, 1396 Rn. 24, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ; BVerfG, aaO).
(BGH, Urteil vom 03. Juli 2018 – XI ZR 702/16 –, Rn. 13, juris)

Der BGH bezieht sich bei seiner Auslegung auf einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26.09.2011 AZ: 2 BvR 2216/06, welches sich unter anderem mit der Reichweite der Bindungswirkung von EuGH Urteilen im Rahmen der Auslegung für nationale Gerichte befasst hat. Dazu schreibt das Bundesverfassungsgericht:

Die Einhaltung dieser Grenzen kontrolliert das Bundesverfassungsgericht gleichermaßen und unabhängig davon, ob das anzuwendende einfache nationale Recht der Umsetzung einer Richtlinie der Europäischen Union dient oder nicht. Dem steht nicht entgegen, dass der aus Art. 4 Abs. 3 EUV folgende Grundsatz der Unionstreue alle mitgliedstaatlichen Stellen, also auch Gerichte, dazu verpflichtet, diejenige Auslegung des nationalen Rechts zu wählen, die dem Inhalt einer EU-Richtlinie in der ihr vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung entspricht (vgl. BVerfGE 75, 223, 237 = WM 1987, 1373). Denn die unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet das nationale Gericht zwar, durch „die Anwendung seiner Auslegungsmethoden“ ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erzielen (vgl. EuGH, Urteil vom 9. März 2004, verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01, Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rdn. 116; EuGH, Urteil vom 16. Juli 2009, Rs. C-12/08, Mono Car Styling, Slg. 2009, I-6653 Rdn. 63). Besteht ein Auslegungsspielraum, ist das nationale Gericht verpflichtet, diesen soweit wie möglich auszuschöpfen (vgl. EuGH, Urteil vom 10. April 1984, Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 Rdn. 28; EuGH, Urteil vom 10. April 1984, Rs. 79/83, Harz, Slg. 1984, 1921 Rdn. 28). Mehrere mögliche Auslegungsmethoden sind daher hinsichtlich des Richtlinienziels bestmöglich anzuwenden im Sinne eines Optimierungsgebotes.
Allerdings findet die Pflicht zur Verwirklichung des Richtlinienziels im Auslegungswege zugleich ihre Grenzen an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten (vgl. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter Europäischem Einfluss, 1999, S. 102). So verlangt auch der Europäische Gerichtshof vom nationalen Gericht nur, bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts dieses „soweit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes“ der Richtlinie auszulegen, „um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen und so Artikel 249 Absatz 3 EG [heute Art. 288 Abs. 3 AEUV] nachzukommen“ (EuGH, Urteil vom 13. November 1990, Rs. C-106/89, Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rdn. 8; EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1993, Rs. C-334/92, Wagner Miret, Slg. 1993, I-6911 Rdn. 20; vgl. bereits EuGH, Urteil vom 10. April 1984 a.a.O. Rdn. 26; EuGH, Urteil vom 10. April 1984 a.a.O. Rdn. 26; st.Rspr.). Ebenso hat der Europäische Gerichtshof erkannt, dass die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung insbesondere im Grundsatz der Rechtssicherheit ihre Schranken findet und daher nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen darf (s. EuGH, Urteil vom 16. Juli 2009 a.a.O. Rdn. 61). Ob und inwieweit das innerstaatliche Recht eine entsprechende richtlinienkonforme Auslegung zulässt, können nur innerstaatliche Gerichte beurteilen (vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 11. November 2004, Rs. C-105/03, Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rdn. 39, m.w.N.).
(WM 2012, 1179, 1181)

Interessanterweise bezieht sich das vom BGH zitierte Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf einem Fall in dem der Beschwerdeführer gerügt hat, dass der BGH eine zu weite Auslegung eines Urteils des EuGH vorgenommen hat, was das Bundesverfassungsgericht aber letztlich verneint hat. Der BGH führt nun in der Entscheidung vom 19.3.2020 an, dass die vom Landgericht Saarbrücken angegriffene Kettenverweisung der Musterbelehrung genau eine solche Auslegung „contra legem“ wäre, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung gemeint hätte. Eine nähere Begründung für diese Behauptung nimmt der 11. Senat des BGH aber nicht vor.

Sonderproblem: Gesetzliches Muster

Ein besonderes Problem ist dabei die Tatsache, dass die laut EuGH europarechtswidrige Kaskadenverweisung Teil der vom Gesetzgeber vorgegebenen Musterwiderrufsbelehrung ist.

Es werden praktisch die Banken dafür bestraft, dass Sie die vom Gesetzgeber formulierte Belehrung verwendet haben. Der BGH hat bereits im Jahre 2012 für derartige Fälle einen sogenannten Vertrauensschutz statuiert, wonach der Verwender des Musterformulars sich auf die Schutzwirkung des gesetzlichen Musters berufen darf und als Folge die im Muster genannte Rechtsfolge – also die Widerrufsfrist von 2 Wochen – gültigkeit hat. Die nunmehr vom EuGH als europarechtswidrig eingestufte Kaskadenverweisung ist aber bereits in dem gesetzlichen Muster, welches zwischen

Fazit

Angesichts der Mitteilung des BGH – auch wenn diese zeitlich vor der Entscheidung des EuGH war – lässt Zweifel aufkommen, ob der BGH der Meinung des EuGH folgen wird. Es ist wahrscheinlich dass der BGH mit der fehlenden Zuständigkeit des EuGH (Stichwort: Immobiliendarlehen waren von der EU Richtlinie nicht mit umfassst) und der klaren Intention des Gesetzgebers (Stichwort: Kaskadenverweisung im gesetzlichen Muster) eine Unwirksamkeit einer Widerrufsbelehrung eine Absage erteilen wird.

Andererseits ist die Entscheidung des EuGH ebefalls eindeutig und lässt wenig Platz für eine andere Auslegung. Aus gemeinschaftsrechlticher Sicht muss eine EuGH Entscheidung zur Vereinheitlichung des Gemeinschaftsrechts auch für nationalen Gerichten berücksichtigt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in mehreren Verfahren bestätigt.

Rechtssicherheit wird letztendlich nur eine BGH Entscheidung bzw eine Bundesverfassungsgerichtsentscheidung bringen.

Solange jedoch noch keine höchstrichterliche Entscheidung des BGH und/oder eine Entscheidung eines OLG zur unmittelbaren Anwendung der EuGH Entscheidung vorhanden ist, stehen auf Grund der fehlenden Entscheidungen deutscher Gerichte nach Erlasss der Entscheidung des EuGH die Chancen gut mit den beteiligten Banken zu einer vergleichsweisen Lösung zu kommen.

Allerdings muss der Darlehensnehmer unter Umständen auch bereit sein, trotz bestehender Unsicherheit seine Ansprüche gerichtlich und über mehrere Instanzen hinweg durchzusetzen.

Die Rechtsanwaltskanzlei Mielke & Koy hat bereits mehrere Darlehenswidersprüche gegen Banken außergerichtlich und gerichtlich begleitet.

Neue Folge in Serie: Der Widerrufsjoker Teil IV – Der EuGH greift ein.