Die Juristenausbildung ist (oder war es zumindest zu Zeiten meiner Ausbildung) voll auf die Tätigkeit des Richters ausgerichtet. Das führt dazu, dass der Anwalt und seine Tätigkeit in der Ausbildung vernachlässigt wird, und mehr als die Hälfte der ausgebildeten Juristen nach dem 2. Staatsexamen in der Tasche mit mehr oder minder großer Ahnungslosigkeit über das Berufsrecht eine Tätigkeit als Anwalt aufnehmen. Nun gibt es das Berufsrecht, welches unter anderem die Berufsordnung der Rechtsanwälte, kurz BORA, umfasst. Dort gibt es nette, aber unwirksame Normen – etwa den § 13 BORA, der vom Bundesverfassungsgericht für unwirksam erklärt wurde – und eine Norm, über die die Kammer immer noch mit Arguswaugen wacht, § 12 BORA.
§ 12 Umgehung des Gegenanwalts
(1) Der Rechtsanwalt darf nicht ohne Einwilligung des Rechtsanwalts eines anderen Beteiligten mit diesem unmittelbar Verbindung aufnehmen oder verhandeln.
Sinn und Zweck der Norm erschließt sich leicht: Es soll verhindert werden, dass man unter Umgehung des anderen Anwaltes den Gegner „überrumpelt“, etwa indem man den Gegner zu einem Vergleich oder einer anderen Willenserklärung überredet.
Ehrlicherweise war auch mir diese Norm am Anfang meiner beruflichen Tätigkeit unbekannt, und so landete ich mit meiner ersten Gegenabmahnung an einen anwaltlich Vertretenen Gegner (ich ging davon aus dass es eine neue Angelegenheit ist) prompt bei der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer und bekam einen entsprechenden „Rüffel“. Anfängerfehler eben.
In einer anderen Sache haben nun wir das Verhalten eines Kollegen bei der Kammer gerügt. Dieser hatte das Mandat von einem anderen Kollegen übernommen, mit dem es bereits ein ausführlichen Schriftwechsel gab. Der neue Anwalt schreibt nun unseren Mandanten – ohne das wir eine Kopie erhalten – zweimal direkt an, ob man sich nicht zwecks Vergleichsgesprächen treffen könnte. Auf unsere Beschwerde erhalten wir folgendes „Entschuldigungsschreiben“:
Die Mandantin wollte nach dem Anwaltswechsel einen „Neuanfang“ in der festgefahrenen Sache versuchen, daher habe er einen solchen „unbelasteten Neuanfang“ mit einem direkten Anschreiben versuchen wollen. Im Übrigen sei dies die erste Beschwerde in seiner mehr als 20jährigen Tätigkeit.
Aha.
Scheinbar sind nicht nur Berufsanfänger unwissend.
Ein Berufsanfänger, dessen Desinteresse an seinem künftigen Beruf und dessen rechtlichen Rahmenbedingungen so groß ist, dass er nicht einmal zu Beginn einen BORA-Text in die Hand nehmen mag, hätte es wohl kaum zu schätzen gewusst, wenn man ihm bereits während des Studiums etwas über das Verbot der Umgehung des Gegenanwalts erzählt hätte.
Nun ja, aber gerade als Berufsanfänger gibt es soviel Neues, da kann die BORA auch mal hinten runterfallen. Ich habe damals einen 4tägigen Kurs des Anwaltvereins für neue Rechtsanwälte besucht. Von der BORA war in diesen 4 Tagen nicht die Rede. Und wie mein Beispiel zeigt, ist die BORA auch bei „erfahrenen“ Kollegen (immerhin ein Seniorpartner einer mittelständischen Kanzlei) nicht bekannt.
Wenn man gegenüber einem Kollegen die eigene Umgehung beanstanden möchte, sollte man übrigens an § 25 BORA denken (also nicht einfach ein Fax an die Kanzlei schicken), da man sich sonst möglicherweise selbst einer Rüge aussetzt.